Die folgende Kurzgeschichte spielt in der Hafenstadt Cuanscadan vor langer, langer Zeit. Sie wurde vor einigen Jahren geschrieben …
Der Besuch der alten Dame
Kurzgeschichte von Amhairgin
»Worauf wartest du, trag mich endlich hier weg. Oder muss ich alles selber machen?« Cleona stemmte ihren dürren Leib wenige Zentimeter aus dem weichen Samtkissen. Teagan verdrehte die Augen. Das war doch nur wieder eins von Cleonas Spielchen, mit denen sie ihn zur Weißglut trieb. Als wenn sie ihren Körper ohne fremde Hilfe mehr als eine Handbreit bewegen könnte. Und diese fremde Hilfe war meistens er, der Schwiegersohn. Dachte er nur an den Tag zurück, als er bei Cleona und – wie hieß ihr toter Mann denn noch – ach, das war auch einerlei. Er verfluchte jedenfalls den Tag, als er um Gaels Hand anhielt. Was hatte er davon gehabt – nichts als Ärger. Außerdem nutzten sie alle seine Hilfsbereitschaft eiskalt aus, besonders diese alte …
»Wird es jetzt bald, die Sonne brennt wie Feuer. Mein neues Kleid bleicht womöglich aus. Aber deinem hohlen Kopf schadet das ja nicht, nur ich leide nachher wieder unter meinen unerträglichen Kopfschmerzen.« Zur Bekräftigung legte sie den Handrücken an ihre bleiche Stirn und stöhnte.
Sie stöhnt immer, dachte Teagan. Und in ihrem neuen Kleid sieht sie aus wie ein roter Drache. Mit einem Seufzen schob er die rechte Hand wie bei einem kleinen Kind sachte unter ihr knochiges Gesäß und stützte mit der linken ihren steifen Rücken ab. Dann hob er sie an. Er wankte ein paar Schritte vorwärts. Jetzt macht die gehässige Alte sich wieder schwer wie ein Wackerstein, dachte er, nur damit er in der brütenden Hitze noch mehr schwitzte.
»Stolper doch nicht so herum, du Depp, gleich lässt du mich noch fallen. Das willst du wohl.«
Sie lachte wie ein keckerndes Waldhörnchen. Eines von der Sorte, denen er als Kind mit Vorliebe den Hals …
»Nein, bring mich nicht in Nemoghs Laden. Muss ich denn alles sagen. Los, geh in den Hinterhof zur Werkstatt, der Verrückte wird bei der Arbeit sein. Und sieh zu, dass die Gehilfen meine Kiste schleppen.«
Teagan bedeutete zwei rothäutigen Huahahatschi mit einem Kopfnicken, die helle Holzkiste hinter ihnen herzutragen.
»Schau nach vorne, sonst fliegst du noch über deine eigenen Füße«, lamentierte Cleona.
Teagan hörte gar nicht mehr hin – oder er bildete sich jedenfalls ein, dass die Schimpftiraden nicht seine Ohren erreichten –, sondern steuerte auf das schäbige Gebäude im Hinterhof zu. Das war nicht einfach.
Cleona verlagerte ständig ihr Gewicht, um entweder nach hinten zu schauen und die Huahahatschi zu größerer Eile anzutreiben, oder um Teagan die Vorzüge seines Domizils vor Augen zu führen, verglichen mit den einfachen Wohnstätten, in denen gescheiterte Naturen wie der Erfinder Nemogh vegetieren mussten. »Und das hast du nur mir zu verdanken!«, spie sie ihm ins Gesicht. Teagan verdrehte angewidert die Augen.
Als Cleona mit ihrem Anhang an der verschlossenen Werkstatttür hielt, atmete Teagan tief durch. Fast schien es, als sei Teagan schwach auf der Brust, doch das Gegenteil war der Fall. Viele hielten ihn sogar für eine stattliche Erscheinung. Und besonders Frauen genossen die Vorzüge seines athletischen Körpers und seine Ausdauer und Tatkraft. Davon merkte er jetzt nichts, er war erschöpft, was aber nicht nur von der Gestalt in seinen Armen herrühren konnte. Als Antiquitätenhändler musste er oft genug sperrige Schränke wuchten, dagegen war Cleona leicht wie eine Vogelfeder. Aber seit einigen Tagen – um genau zu sein: Seit dem Mitternachtsmahl am vergangenen Sonntag – durchfloss ihn bei jeder kleinen Anstrengung eine Hitze, der eine lähmende Schwäche folgte, so als ob die Lebenskraft aus seinen Adern gesogen würde.
»Klopf an«, schnarrte die Alte.
Wie sollte er das nun wieder machen, er hatte keine Hand frei. Einer der Huahahatschi eilte herbei. Cleona erteilte ihm mit einem gnädigen Kopfnicken die Erlaubnis, an die schäbige Werkstatttür zu klopfen.
Sofort kam die Antwort: »Herein!«, worauf Cleona mit einem zweiten Kopfnicken reagierte. Der Gehilfe öffnete die Tür. Heraus schwappte ein buntes Gemisch an Gerüchen, das Teagan an brackiges Meerwasser, ranziges Olivenöl und verfaulte Wiesenblumen erinnerte. Wiesenblumen – deshalb juckte es plötzlich in seiner Nase.
»Untersteh dich!«, schimpfte die Alte, die seine vibrierenden Nasenflügel und die angespannten Wangenmuskeln sah. »Wenn du jetzt niest, fliegst du mitsamt dem Gesindel aus meinem Haus.« Schlagartig erstarb der Niesreiz.
Vor ihnen tauchte Nemogh auf. Seine dreckigen Hände wischte er beiläufig an seinem grauen Leinenkittel ab. »Ach, ihr seid das«, schnaubte er. Mit der Hand kämmte er dann die verschwitzten Haare aus dem Gesicht. »Ihr müsst entschuldigen, ich war im Keller. Meine neue Erfindung funktioniert noch nicht richtig, die Ventile verstopfen bei jedem Durchlauf.«
Teagan horchte begeistert auf. Alte Gegenstände fesselten ihn auf Anhieb, weil ein guter Antiquitätenhändler eine feine Nase für unentdeckte Meisterstücke hat. Doch daneben faszinierte ihn auch alles Neue. Das ließ sich mit etwas Fingerspitzengefühl so herrichten, dass es alt aussah. Richtig alt. Denn was rissen ihm die Reichen der Stadt aus den Händen – Pretiosen, von deren Existenz keiner etwas ahnte. Also sozusagen alte Stücke, die frisch auf dem Markt auftauchten. Und Nemogh fabrizierte ständig neue Kostbarkeiten.
»Was versteht ihr eigentlich unter Venti…?«, begann Teagan, um seine Neugier zu stillen, doch Cleona fuhr dazwischen: »Papperlapapp. Männergeschwätz. Setz mich sofort in den weichen Sessel dort, und dann reden wir mit dem guten Maistír Nemogh einmal Tacheles.«
Die alte Dame klang sehr aufgebracht. Nemogh wurde auf der Stelle hellhörig, denn unzufriedene Auftraggeber schadeten seinem Geschäft. Eine Frau mit ihrem Einfluss in der Stadt konnte sogar seinen Ruf für immer ruinieren. Ein Fiasko, was würde aus all den bedeutenden Erfindungen, die er noch machen wollte. Es half nichts, er musste seiner Kundin Honig um den Mund schmieren. Dabei würde er die alte Dame am liebsten mit eigenen Händen vor die Tür setzen. Wenn er nur ihre abfällig heruntergezogenen Mundwinkel in diesem aschgrauen Gesicht sah.
»Was starrt ihr mich an, Nemogh, ihr wollt mich sicher gleich wieder vor die Tür werfen. Wie diese Gestalt da«, sie wies mit dem Zeigefinger auf Teagan, der stumm zu Boden schaute und sich wünschte, dass alles schnell vorbei sei und er endlich wieder in seinen Laden zurückkehren könnte. »Aber so kommt ihr mir nicht davon. Ohne Zweifel wisst ihr, warum ich zu euch komme.« Das war keine Frage, das war eine Antwort.
»Öffnet endlich die Kiste«, raunzte die Frau. Ihre beiden Gehilfen zögerten keinen Moment, denn auch sie waren an Cleonas Launen gewöhnt und befolgten ihre Anweisungen zügig und ohne Nachfrage. Sie entriegelten das tischhohe Behältnis, legten den Holzdeckel beiseite und traten zwei Schritte zurück.
»Und nun schaut euch an, Maistír Nemogh, was ihr angerichtet habt.« Ein höhnisches Lächeln stahl sich auf Cleonas Gesicht. Selbst ihr griesgrämiges Grinsen schien im Gegensatz dazu noch freundlich.
Nemogh schaute kurz in die Kiste, warf Teagan einen überraschten Blick zu und schaute ein zweites Mal hinein.
»Nun erzählt mir, was ihr seht. Seht ihr etwa das Gerät, das ihr speziell für mich angefertigt habt.« Ihre Worte zischten wie Messer durchs Zimmer.
»Ich bin mir nicht sicher«, stotterte Nemogh und rieb sich den Hals, als müsse er seine unversehrte Haut abtasten. »Ich erkenne so einiges, was mit meiner Erfindung zu tun haben könnte. Das eine runde Etwas könnte ein Rad gewesen sein. Aber waren es nicht vier, wo sind die anderen? Und das rote Seidenkissen kommt mir auch bekannt vor.« Dann griff er doch in die Kiste und zerrte eine verbogene Eisenplatte ans Tageslicht. Er begutachtete das eigenartige Stück Metall von allen Seiten. »Oha, das diente zur Stabilisierung. Aber was habt ihr mit meiner Erfindung gemacht?«
Nemogh hatte kaum ausgesprochen, da sprang Cleona bereits wie von einer Giftspinne gestochen aus dem tiefen Sessel. Dann schrie sie spitz auf, ihre Augen weiteten sich vor Entsetzen. Mit einem Stöhnen – Teagan brummte nur: »Nicht schon wieder!« – glitt sie vor die Füße ihres Schwiegersohns.
Nemogh schlug die Hände vors Gesicht. Das fehlte noch, eine unzufriedene Kundin, die in seiner Werkstatt starb.
Teagan nahm das gelassen. Oder vielmehr, zuerst gelassen. Dann grübelte er. Dabei fächelte er der Alten Luft zu. »Sie ist nur ohnmächtig, Nemogh. Ihr hättet ihr keine Frage stellen dürfen.« Aber war sie wirklich ohnmächtig, oder war das nur wieder Schmierentheater? Dieser entsetzte Blick, galt der Nemoghs unverschämtem Ausruf, was mit seiner Erfindung geschehen sei? Oder hatte sich Cleona über ihre plötzliche Kraft erschreckt, mit der sie sich aus dem Sessel hievte? Teagan war sich nicht sicher, ob eine gelähmte Frau wie Cleona sich so ohne Weiteres erheben konnte, auch wenn sie sich mit den Händen abstützte. Steckte vielleicht mehr dahinter?
Cleona öffnete die Augen. »Oh, wie ist mir denn«, murmelte sie, dann sah sie abwechselnd die beiden Männer an, die neben ihr auf den Knien hockten. »Wolltet ihr beiden mich ein zweites Mal auf dem Gewissen haben.« Nemogh und Teagan schauten sich wie ertappte Jungen an. Bevor sie aber beteuern konnten, wie leid ihnen die Ohnmacht der alten Dame tat und wie sehr sie hofften, dass sie sich von dem Schreck erholen würde, sorgte Cleona mit einer Geste für Ruhe. »Plappert nicht wieder den üblichen Unsinn, helft mir lieber hoch.« Die zwei Männer platzierten Cleona im weichen Sessel.
»Und nun zu euch, Maistír Nemogh. Oder sollte ich euch nicht besser Stümper Nemogh nennen. Jedenfalls ist der Unrat in der Kiste eure fabelhafte Erfindung, mit der ihr mir das sauer erwirtschaftete Geld aus der Tasche gelockt habt. Ja, ja, ihr seid zu recht entsetzt, es ist euer Räderstuhl. Der Stuhl, den ihr selbst in den höchsten Tönen angepriesen habt. Viele glückliche Tage würden mir bevorstehen, habt ihr gerufen, in denen ich mich endlich wieder frei wie ein junges Mädchen bewegen sollte. Hach, eure nützlichste Erfindung habt ihr das – das Zeugs genannt, ein großer Schritt für die Menschen, die sich nicht mehr auf eigenen Füßen bewegen können. Alles Lüge! Ihr seid ein Scharlatan, Maistír Nemogh!« Cleona holte Luft.
Nemogh raffte seinen Mut zusammen und fuhr ihr in die Parade. »Haltet bitte ein, werte Dame, und schildert mir, was passiert ist. Ist der Räderstuhl etwa unter euch zusammengebrochen?«
Cleona japste: »Wollt ihr behaupten, das Ding sei unter meinem Gewicht in tausend Stücke zersplittert. Ihr seid nicht nur ein Stümper, ihr seid auch noch ein Grobian. Das Ding ist ein Mordwerkzeug, Maistír Nemogh! Ein Gerät, mit dem man zarte Menschen wie mich ins Grab befördert. Ihr wisst nicht einmal, was eure Erfindungen anrichten, weil ihr nämlich einfältig seid.«
Die alte Dame tupfte sich mit einem schneeweißen Tüchlein die Augen, denn links und rechts tropften zwei dicke Tränen heraus. »Ach, wie mir das alles zu Herzen geht. Ihr stellt euch ja gar nicht vor, wie übel einer alten Dame wie mir seit vielen Jahren mitgespielt wird. Tagaus, tagein muss ich auf der Hut sein, dass mir keiner von diesen -«, sie warf einen vielsagenden Blick auf Teagan, »Erbschleichern an den Kragen geht.«
Teagan trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. »Ja, du gehörst zu der Sorte, Schwiegersohn. Ach, bevor Maistír Nemogh mich noch für eine geschwätzige alte Dame hält, erzähle ich besser die Wahrheit. Also, der da«, sie stach mit dem Zeigefinger nach Teagan, »sollte mich in der Früh von meinem Schlafgemach im oberen Stockwerk hinunter an den Frühstückstisch fahren. Wie habt ihr noch geschwärmt: Sogar Treppen sind mit diesem Räderstuhl kein Hindernis! Mein nichtswürdiger Schwiegersohn also rollt mich zur Treppe, aber anstatt abzubremsen, schiebt er das Ding in aller Seelenruhe weiter.« Cleona atmete tief durch. »Und dann lässt er die Haltegriffe los.«
»Das habe ich nicht getan, sie sind mir aus den Händen gerutscht! Jemand hat sie mit Seife eingeschmiert«, protestierte Teagan. Seine müde Stimme verriet, dass er seine Unschuld nicht zum ersten Mal beteuerte.
»Unsinn. Wer soll das getan haben. Die ganze Familie liebt mich – außer dir! Du profitierst von meinem Ableben am meisten.« Cleona machte Anstalten, sich wieder aus dem Sessel zu erheben, besann sich dann aber eines Besseren.
»Dann weiß ich wirklich nicht, warum du meine Dienste noch in Anspruch nimmst. Du musst doch fürchterliche Angst haben, dass ich dich wieder die Treppe hinunterstoße«, lästerte Teagan.
»Hach, den Tag möchte ich erleben, an dem ich einmal Angst habe! Glaubst du im ernst, du könntest mich loswerden. Du hast es nicht anders verdient und musst deine Schwiegermutter bis ans Ende deiner Tage an jeden Ort der Welt tragen.« Cleona lächelte glücklich wie ein junges Mädchen bei ihrem ersten Liebesabenteuer.
Nemogh räusperte sich. »Was soll nun mit dem Ding – ich meine, was soll mit dem Räderstuhl geschehen? Soll ich ihn reparieren?«
»Untersteht euch, ihr Nichtsnutz«, Cleonas Fröhlichkeit war erloschen. »Werft das Ding auf euren Müllhaufen. Irgendwo habt ihr doch sicher den Plunder deponiert, der euch misslungen ist.«
»Wie ihr wollt, werte Dame.« Brummelnd kramte Nemogh in der Holzkiste herum: »Am besten lagere ich den Räderstuhl erst einmal ein. Es wäre doch schade, wenn dieses praktische Gerät …«
»Jetzt macht schon, wir haben nicht alle Zeit der Welt. Ihr müsst mir ja das Geld noch zurückzahlen.« Aus einer Falte im Kleid fischte sie ihren Geldbeutel.
Nemogh stutzte einen Moment, dann gab er sich geschlagen. »Natürlich, ihr sollt eure Nathrod bis auf die letzte Münze erhalten. Aber momentan habe ich kein Geld im Haus. Wollt ihr stattdessen nicht einen anderen Gegenstand – oh, verzeiht meine Aufdringlichkeit. Das Geld wird euch gleich morgen ausgehändigt. Wenn mir euer Schwiegersohn die schwere Kiste ins Lager bringen mag?«
Teagan zögerte nicht. Er war froh, dem peinlichen Gespräch nicht länger tatenlos zuhören zu müssen. Gemeinsam mit einem der beiden Gehilfe hievte er die unhandliche Kiste hoch und bugsierte sie quer durch die Werkstatt. Nemogh öffnete die Hintertür mit einem der vielen Schlüssel, die in seiner Tasche klimperten. »Schiebt die Kiste einfach zu den anderen«, empfahl der Erfinder, dann wandte er sich wieder der alten Dame zu. »Aber ihr ward doch hochzufrieden, als ich euch den Räderstuhl übergab und euch Teagan über die Straße rollte. Mit Verlaub, aber die Menschen warfen euch bewundernde Blicke zu. Wollt ihr von nun an wieder in einer holprigen Kutsche durch die Stadt fahren?«
Mit überheblichem Augenaufschlag antwortete Cleona: »Macht euch um mich keine Sorgen, ich gehe schon meinen Weg. Aha, da kommt dieser Taugenichts endlich zurück. Was schaust du so verwirrt.«
Teagan ging gar nicht erst auf Cleona ein. Er war richtig aufgeregt: »Da stehen ja schon Kisten, Maistír Nemogh.«
Der machte ein langes Gesicht: »Leider seid ihr nicht die einzigen unzufriedenen Kunden.«
»Es türmen sich aber unzählige Kisten im Lager, Maistír Nemogh, tausende und abertausende, hintereinander gestapelt, übereinander gestapelt und nebeneinander gestapelt. Ich habe das Ende des Lagerraums gar nicht sehen können. Außerdem riecht es nach faulem Fisch!«
Nemogh zuckte mit den Schultern. »Die Sache mit dem Fischgestank bekomme ich nicht in den Griff. Eigentlich hat der unendliche Lagerraum nämlich nur gute Seiten, ich kann alles drin verstauen, was sonst im Weg herumsteht. Doch irgendwo in einer Ecke des Lagerraums muss neuerdings ein Durchlass sein. Und da dringt vermutlich der Geruch vom Hafen ein. Oje, hoffentlich nutzen nicht Diebe die Lücke aus und räumen mir das Lager leer.«
»Vom Hafen her?« Teagan kratzte sich am Kopf. »Aber eure Werkstatt steht mitten in der Altstadt.«
Bevor er aber nachhaken konnte, beschwerte sich Cleona: »Könntet ihr euch endlich wieder um mich kümmern. Wir wollen jetzt gehen.« Ihr Schwiegersohn nahm sie behutsam wie ein kleines Kind in die Arme.
Nemogh hielt den Besuchern erleichtert die Werkstatttür auf. Aber eine Frage lag ihm noch auf dem Herzen: »Warum geht ihr eigentlich das Risiko ein, dass euch eines Tages jemand zu Tode fallen lässt?«
Die alte Dame lachte aus vollem Hals. Dann schlang sie wie eine Krake beide Arme um den Nacken ihres Schwiegersohns. Teagan hustete, weil er keine Luft mehr bekam. »Wenn mich einer fallen lässt, dann wird er schnell merken, wie anhänglich ich bin. Jetzt schaut aber nicht entsetzt, Maistír Nemogh, kommt lieber mit und bewundert mein neues Gefährt.«
Auf der Straße platzierte Teagan die alte Dame in ihrem Gefährt. »Diesen Tragstuhl hat Maistír Iordagh mir auf den Leib gezimmert. Der Mann versteht sein Handwerk«, rief Cleona dem Erfinder zu. Vier kräftige Huahahatschi packten die Trageholme und hoben in stummer Eintracht an. Der Tragstuhl schaukelte nicht im Geringsten, denn die Männer verstanden ihr Handwerk. Sie trugen ihn mitsamt seiner kostbaren Last im Laufschritt vorbei an Nemogh. Cleona lächelte. Der Tross wurde verfolgt von johlenden Halbwüchsigen, die schon seit ihrer Ankunft mit großen Augen herumlungerten, den beiden Gehilfen und einem sichtlich entnervten Teagan.
Nemogh hatte schon vieles gesehen, aber ein solches Gefährt war ihm noch nicht unter die Augen gekommen. Cleona saß in einem mit rotem Samt gepolsterten Stuhl wie die Fürstin auf ihrem Thron. Der schmale Schemel, auf dem ihre Füße ruhten, war mit rotem Leder bespannt. Aufwändige Intarsienarbeiten aus geschliffener Rostkastanie prägten die geschlossenen Seitenteile. Die rothäutigen Huahahatschi balancierten den Tragstuhl an vier Holmen aus demselben edlen Holz. Ihre Körper glänzten wie ein Meer von karmesinroten Bemalungen, ihre mit rötlichen Vogelfedern besprenkelten Umhänge zitterten im leichten Abendwind, und ihre getrimmten Haare leuchteten rotgolden in der untergehenden Sonne.
Dann jagten sie auch schon um die Ecke. Nemogh erkannte gerade noch auf der Rückseite des Tragstuhls die eingravierten Zeichen:
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