Die Geschichte von Branwen und Aid

»Die Geschichte von Branwen und Aid« von Seamhainn erschien 1988 in den Schlangenschriften 27 (Follow 235). Die Erzählung erschien auch im Rahmen der Sammlung (Midgard-Buch 3, Pegasus-Verlag, 2005).

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Die Geschichte von Branwen und Aid

Seamhainn

Es war ein Sommer, und dieser war sonnig und lang, länger als jeder Sommer, den Branwen je erlebt hatte. Gleichzeitig aber war es der kürzeste von allen, denn in diesem Sommer würde sich der Tag ihrer Geburt zum zwölften Mal jähren, und an diesem Tag würde Branwen das Tal verlassen müssen. Sie wusste es schon lange, denn ihr Vater hatte es ihr erklärt. Die Clanns im Tal waren lange Zeit verfeindet gewesen, und immer wieder war es zu blutigen Streitigkeiten gekommen. Da war ihr Vater, Croinen, schweren Herzens zum Häuptling des anderen Clanns gegangen und hatte sie als Lean Altrama, als Pflegekind, angeboten, um Frieden zu schaffen. Dies war eine weit verbreitete Sitte im Lande, weil dadurch viele günstige politische und militärische Bündnisse geschlossen werden konnten. In diesem Fall aber war es so, dass Branwen Croinens einzige Tochter war; ihre Mutter war bei ihrer Geburt gestorben, und nie hatte ihr Vater den Verlust verwunden. Alle Liebe hatte er fortan auf seine Tochter gerichtet, aber der Blutzoll in den Kriegen war zu groß gewesen und hatte das Opfer verlangt.
   An diesem Tag packte Branwen alles, was ihr lieb und teuer war, in einen Beutel und band ihn eigenhändig hinter dem Sattel ihres Pferdes fest. Dann wandte sie sich ihrem Vater zu und verabschiedete sich kurz, ohne ihn den ganzen Schmerz merken zu lassen, der in ihr war wegen der Trennung. Sieben Mann begleiteten sie als Eskorte ins Gebiet des anderen Clanns. In der Nacht richteten sie ihr Lager am Waldrand ein. Branwen schlief etwas abseits an einem eigenen kleinen Feuer. Lange schaute sie zu den Sternen empor, doch diese versprachen ihr keinen Trost. Am nächsten Tag zogen Wolken auf, und Branwen wurde von einem heftigen Krachen geweckt. Der Blitz war in einen Baum unweit des Lagers eingeschlagen, und die Männer ihrer Eskorte bemühten sich, kleine Flammen zu löschen, die er entfacht hatte, damit das Feuer nicht auf den Wald übergreife. Der Regen, der dem Donner folgte, kam ihnen dabei zu Hilfe.
   Da trat ein Wesen aus dem Wald heraus und näherte sich Branwen. Es war ein kräftiger, über und über mit braunem Fell bedeckter Mann. Eine pelzige Hand berührte ihren Arm. Trotz des Äußeren des Fremden empfand Branwen keine Furcht. »Ich kenne alle, die sich in meinem Wald aufhalten«, sagte der Mann, »du aber bist neu in diesem Gebiet. Du bist eine verwandte Seele. Wisse, dass du nie allein sein wirst.« Und schon verschwand der Bepelzte wieder im Gebüsch. Branwen war sich nicht sicher, ob es ein Traum gewesen war.     Sie starrte auf die Büsche und fragte: »Wer bist du, fremdes Wesen?«
   »Feardonn ay’caorán«, kam leise die Antwort aus dem Wald. Dann kamen ihre Begleiter, richteten das Morgenessen und brachen das Lager ab. Am Mittag dieses Tages erreichten sie das Gehöft des Clanns, in dem Branwen nun leben sollte. Der Häuptling des Clanns und die Männer in Branwens Begleitung wechselten viele Worte miteinander, die sie nicht verstand. Sie fror erbärmlich, denn der Regen hatte nicht aufgehört. Niemand kümmerte sich um sie, bis ein Junge erschien, um sie zu ihrem einfachen Raum in dem Gehöft zu bringen. Der Häuptling hatte vier Söhne, drei von ihnen erwachsen, grob und hart aussehend wie er, mit langen Haaren und wilden Bärten. Ihre Gesichter waren verschlossen, niemand hatte ihr Aufmerksamkeit entgegengebracht – außer dem Jungen, denn er war Aid, der vierte Sohn des Domnell, mit freundlichem Gesicht, hellen Augen und blondgelocktem Haar; er war nur wenige Tage älter als Branwen selbst.
   Niemand war grob zu Branwen, doch sie ließen sie spüren, dass sie eine Fremde war, und langaufgebautes Misstrauen ließ sich nur schwer überwinden. So wuchs Branwen fast alleine in dieser Gemeinschaft der Menschen auf – allein bis auf Aid. Gemeinsam zogen sie durch die Wälder und Hügel der Umgebung, gemeinsam lauschten sie in der kalten Zeit den Erzählungen der Männer und der Kunst der wandernden Barden. Vier Jahre vergingen, in denen eine feste Freundschaft zwischen ihnen erwuchs, und es begann die Zeit, da sie zur Liebe zwischen Mann und Frau zu werden versprach. Branwen war herangewachsen zu einem jungen Mädchen, mit schwarzen, langen Haaren, Augen fast wie die eines Rehes, und ihr Gesicht leuchtete auf, wenn sie lachte und fröhlich war. Nur sah dies niemand außer Aid. Er selbst war ein junger Krieger geworden, noch nicht allzu kräftig an Wuchs und Gestalt, doch geschickt mit dem Schwert und erfahren in der Jagd.
   Im Sommer des zweiten Jahres, da sie Pflegetochter geworden war, begegnete sie dem Pelzigen erneut. Sie kannte die Umgebung des Gehöftes nun sehr gut, und ihre Streifzüge dehnten sich immer weiter aus, wenn sie sich von ihrer Arbeit im Haus fortstehlen konnte.    Es war einer jener Augenblicke, an dem Branwen alle Schwermut vergaß und ausgelassen war, sich treiben ließ in den ersten warmen Strahlen der Frühlingssonne. So fand sie den Hain. Ein Gefühl des Friedens und der Ruhe ging von ihm aus wie eine sonderbare Aura. Eine leise Stimme sagte: »Tritt näher, Branwen! Lange ist es her, dass wir uns gesehen haben.«
   Sie ging in den Hain hinein bis zu einer kleinen Lichtung. In der Mitte saß Feardonn ay’caorán, der bepelzte Mann. Wie schon bei der ersten Begegnung verspürte sie keine Furcht.
»Setz dich und lausche den Stimmen des Waldes, denn ich weiß, du kannst sie verstehen wie ich.« Branwen gehorchte und lauschte angestrengt, doch nichts hatte sich geändert. So blickte sie den Bepelzten an und fragte ihn, ob er denn ein fremdes Wesen sei, geboren in diesem Wald.
   »Nein«, meinte Feardonn, »nicht fremd, geboren wie du aus einer Mutter Schoß. Aber eine Laune der Götter gab mir diesen Pelz. Meine Mutter verflachte mich und setzte mich aus in diesen Wäldern. Aufgewachsen bin ich mit den Tieren, ernährt wurde ich von den Früchten des Waldes, sprechen tue ich die Sprache der Tiere wie der Menschen. Ich bin ein Mensch wie du. Sieh dort.«¹ Er deutete auf einen Hasen, der sich ohne Scheu ihm näherte. »Ruf seinen Namen, Branwen!,« forderte er sie auf, doch sie konnte nicht antworten.
   Da nannte Feardonn den geheimen Namen des Tieres, und sofort wusste Branwen, dass es der Richtige war. Der Hase kam zu ihnen und sprach mit dem Bepelzten. Mit einem Mal verstand Branwen alles, was sie sich sagten. Tief aus ihrer versunkenen Erinnerung stieg das Wissen empor …
   »Du mußt nun gehen«, sagte Feardonn, »denn der Junge ist auf dem Weg hierher und sucht dich.«
   »Wann kann ich dich wiedersehen?«
   »Rufe mich, wenn der Mond seine volle Größe erreicht, und du wirst mich immer finden.«
   Da eilte Branwen aus dem Hain hinaus, und bald fand sie Aid, doch sie erzählte ihm nichts von ihrer Begegnung.


So verließ Branwen immer des Nachts, wenn Vollmond war, das Gehöft und suchte Feardonn ay’caorán auf, um mit ihm die Tiere des Waldes zu sprechen und ihre Geheimnisse zu erfahren. Es war nicht immer leicht, da des Nachts die Tore des Gehöftes geschlossen waren und Wachen patrouillierten, weil Gerüchte von einer umherziehenden Horde Siabhra aufgekommen waren; aber wie im Walde zeigte sich Branwens Geschick auch hier in der Nacht, und niemand bemerkte sie außer einem: Aid, denn das veränderte Wesen des Mädchens war ihm aufgefallen seit jenem Tage, da er sie im Wald gefunden hatte.
   Er sagte nichts zu ihr und drang nicht in sie ob ihrer nächtlichen Ausflüge, aber seine Sorgen wuchsen in dem Maße, da weitere Spuren der Siabhra, der Menschen der Finsternis, in der Umgebung des Tales gefunden wurden. So groß war seine Sorge, dass er sich am nächsten Vollmondabend selbst aufmachte in den Wald und Branwen folgte, so dass sie es nicht bemerkte. Denn auch Aid war geschickt in der Jagd und hatte außerdem Branwens Verhalten beobachtet, wenn sie leichten Schrittes durch die Wälder ging. In dieser Nacht rief Branwen vergebens den Namen ihres Freundes; er erschien nicht. Aber als sie an jenem heiligen Hain stand, trat Aid aus dem Schatten der Bäume auf sie zu und sagte mit Bitternis in der Stimme: »Du rufst den Bepelzten? Ist der Finstere dein Freund, den du so oft aufsuchst?« Nun wusste Branwen, warum ihr Freund nicht erschienen war. Mit leiser Stimme gab sie Aid Antwort: »Er ist kein Wesen der Finsternis, er ist jedoch mein Freund. Er hütet den Wald und besonders diesen Hain, er meidet die Menschen, weil sie so laut sind in ihrem Gebaren, weil sie so viel zerstören in ihren Kriegen.«
   Sie sprach mit soviel Ehrlichkeit und Offenheit, dass Aid nicht an sich halten konnte und sie in seine Arme nahm, und sanft wischte er Tränen fort, die plötzlich erschienen waren, und langsam fanden sich ihre Lippen. In ihren Ohren rauschte es wie von einem Wasserfall und sie vermochten nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, als sie sich wieder trennten. Sie sahen sich in die Augen und wussten beide, dass nichts mehr zwischen ihnen bestand außer dem stärksten Band, der Liebe zwischen Mann und Frau.
   Böse Kunde kam am nächsten Nachmittag in der Gestalt eines verwundeten Kriegers; ein Heer der Siabhra war des Nachts aus den Bergen gekommen und hatte den Turm am Eingang des Tals erobert; 15 Krieger waren gefallen, nur er selbst war entkommen. Sofort sandte Domnell Boten zu den umliegenden Clanns, auch zu Croinen, um ihn an das Bündnis zu erinnern.² Am Abend sah man unweit des Wehrgehöfts Lichter eines Lagers der Siabhra. Die Männer schärften ihre Schwerter und am Morgen bemalten sie Gesicht und Körper in den Farben des Clanns. Branwen aber ahnte das Unglück voraus und bat Aid, mit ihr in den Wald zu fliehen, wo sie alle geheime Pfade kannte und die Siabhra sie nicht finden konnten; doch Aid blieb standhaft und entschied sich für den Kampf an der Seite seines Vaters. So sehr auch Branwen weinte und flehte, so nutzlos waren ihre Bitten. Am Morgen ritten die Krieger hinaus und trafen sich mit anderen Clanns, die herbeigekommen waren. Am Nachmittag hörten sie das Klirren von Schwertern im Nebel draußen vor dem Wehrgehöft, und alle Frauen und Kinder hatten die Zinnen bemannt, um hinauszusehen und zu hoffen, dass die Männer der Clanns gewinnen würden. Nur Branwen saß in ihrem Zimmer und wusste, dass Aid fallen würde. Am Abend kehrten die Männer zurück, blutig, zerschlagen, erschöpft, aber siegreich; die Siabhra hatten sich in die Berge zurückgezogen. Sie feierten ihren Sieg und verbanden ihre Wunden; Aid aber und zwei seiner Brüder bahrten sie in der großen Haupthalle auf.
   Am Morgen schlich Branwen in diese Halle, wo die Männer der Totenwache, vom Kampf erschöpft, schliefen. Mit äußerster Anstrengung gelang es ihr, den toten Körper ihres Geliebten zum kleinen Tor zu zerren und weiter hinaus auf den Pfaden, die nur ihr bekannt waren, hinaus in den Wald und zum Heiligen Hain des Feardonn. Ihr Körper war schweißüberströmt, und ihre Arme zitterten, als sie neben dem Körper auf den Boden sank. Dieses Mal brauchte sie Feardonn nicht zu rufen. Er kam auf leisen Sohlen und blickte sie an.
   »Ruf ihn zurück ins Leben«, bat sie ihn, voller Vertrauen auf sei ne Kräfte, »er hat auch für dich gekämpft«.
   Feardonn blickte ihn an. »Warum gerade er? Viele gute Männer sind gestern gestorben.«
   »Weil ich dich darum bitte.«
   »Du weißt, was es bedeutet?«, fragte der Bepelzte. Branwen sagte nichts. Lange blickte Feardonn sie an und sagte schließlich: »Der Häuptling der Siabhra hat ihn selbst getötet, ich sah es aus der Ferne. Solange er lebt, bleibt dieser Körper tot.«
   Am Abend stahl sich Branwen ins Gehöft zurück, nahm einen Dolch, der Aid gehört hatte und mehrere Töpfchen mit Farbe. Sie ging zurück in den Wald, zerriss ihre Kleider, bis sie nach Art der Krieger nur mit einem Schurz um die Lenden bekleidet war und bemalte ihr Gesicht und der Oberkörper nach Art der Männer, die in den Kampf ziehen. Die Siabhra waren in ihre Höhlen in den Bergen zurückgekehrt, die die Grenze nach Tir Thuatha bildeten. Mehr und mehr waren sie zurückgedrängt worden in unwirtliche Berglande und andere Wildernisse. Ihre Macht war am Schwinden.³ Doch immer noch hielten sich hier starke Gruppen dieser finsteren Menschen. Der Häuptling reckte die Arme in die Höhe, als er Trophäen den Kriegern zeigte, die sie trotz ihrer Flucht erbeutet hatten. Mit wirren, menschlichen Ohren unverständlichen Worten brüllte er Beschimpfungen und Siegesschreie heraus; er warf Pulver und Kräuter in das große Feuer in der Mitte der Höhle, und vielstimmiges Gebrüll seiner Männer antwortete ihm. Er verfiel in einen schrillen Singsang und beschwor die Kräfte der Finsternis aus zerstörerischer Kraft des Feuers; Rauchschwaden stiegen empor und schienen eine dunkle, mannshohe Gestalt zu bilden. Schreckliche Worte hallten durch die Höhle.
   Doch da stand plötzlich eine kleine Gestalt neben dem Häuptling, den Körper mit den Farben des Krieges bemalt, und sie schwang mit beiden Händen einen Dolch. Der Häuptling versucht, den Stich abzuwehren, doch die Klinge bohrte sich tief in seinen Hals, und schwarzes Blut spritzte heraus und benetzte die Gestalt. Als der Siabhra fiel, verschwand auch die Rauchgestalt mit einem lauten Schrei. Die anderen Siabhra waren angstvoll zurückgewichen und flohen aus der Höhle, weil sie einen Überfall der Menschen befürchteten, doch als sie hinauskamen, sahen sie niemanden außer einem Schatten, der schnell hinter den Felsen verschwand.
   Erschöpft erreichte Branwen wieder den Hain und die Lichtung, auf der Aids Körper lag. Er war nicht mehr kalt von der Totenstarre, sondern erwärmte sich so schnell, wie das Leben wieder in ihn strömte. Sie setzte sich neben ihn. Der Bepelzte trat aus dem Schatten der Bäume und blickte sie noch einmal an. Sie wussten beide, dass es das Ende ihrer Freundschaft war; denn Branwen hatte getötet, das Leben eines Wesens genommen, auch wenn es eine Kreatur der Finsternis war, und nie mehr würde sie den Heiligen Hain betreten dürfen. »Nie wieder wirst du hierher zurückkommen, nie wieder wirst du die Sprache der Ilere sprechen können. Nun wirst du wieder eine Frau der Menschen sein, laut, ungeschickt, unbeholfen, mit menschlichen Gefühlen und nicht mehr mit den Sinnen für die Natur. Verlasse mich nun, verlorene Schwester«, flüsterte Feardonn.
   Und als er geendet hatte, hob und senkte sich die Brust des Jünglings, und Aid schlug die Augen auf.
   Branwen und Aid aber kehrten nicht mehr zurück zu den Gehöften im Tal, und immer, wenn Wetterleuchten über den Bergen zu sehen war, erinnerten sich manche an sie und erzählten die Geschichte von ihnen; von Branwen und Aid, die immer noch über den Frieden dieses Tales wachten …

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1: Viele seltsame Wesen gibt es in Erainn damals wie heute, und wenn hier von einem bepelzten Mann die Rede ist, so ist es ein Mann, der zurückgezogen lebt in diesem Heiligen Wald; doch dient er nur dem Frieden dieses Waldes und seiner Bewohner und der Grünen Magie Erainns.
2: Wann immer die Zahl der Söhne eines Clannführers größer ist, als dass Land sie und deren Familien zu ernähren vermag, teilt sich der Clann, zumeist in der dritten Generation. Die Leute aus der Gefolgschaft der Jungen ziehen dann fort und siedeln sich an anderer Stelle an, etwa eine halbe Tagesreise entfernt, soweit dies möglich ist.
3: Diese Geschichte wird in den norlichen Grenzlanden gesungen und spielt wenige Jahre vor dem Großen Himmelslicht, das die Ankunft der Coraniaid von Emhain Abhlach anzeigte.