Die Reise in die Anderswelt – Frederik Hetmann (Besprechung)

  • Die Reise in die Anderswelt: Feenmärchen und Feengeschichten aus Irland
  • Herausgeber: Frederik Hetmann
  • Gebundene Ausgabe: 352 Seiten
  • ISBN-10: 3898751295
  • ISBN-13: 978-3898751292
  • Königsfurt Verlag; 2005

Frederik Hetmann widmet sich in diesem Band, wie der Untertitel verrät, den »Feenmärchen und Feengeschichten aus Irland.« – und auch der Anderswelt. »In den verschiedenen Texten taucht es unter der Bezeichnung ›Land der ewigen Jugend‹, ›Land hinter den Wellen‹, ›Insel der Seligen‹, ›Land der Frauen‹, ›Welt der Hoffnung‹, ›Reich des Versprechens‹ auf«, wie Frederik Hetmann auf Seite 15 schreibt.

Das solide Hardcover ziert ein verträumtes Titelbild, mit dem die richtige Stimmung heraufbeschworen wird. Dabei denke ich, dass die gewählte Figur – eine ein zartes Band schwingende junge Frau – genau die Assoziationen weckt, die nicht so ganz mit der phantastischen Realität hinter dem Begriff »Fee« übereinstimmt. Hetmann erläutert aber gleich in seinem Vorwort, was alles unter die Begrifflichkeit fällt. So sind Feen eben auch und besonders Lepracaun, Pooka, Cluricaune, Banshee, Merrows, Brownies und Hobgoblins.

Wie der Leser bei der Lektüre der 356 Seiten feststellen wird, sind nicht alle diese Wesen feengleich, wie wir es uns vorstellen. Manche sind durchaus verschlagen, andere sehr an ihrem eigenen Wohl interessiert oder sie umgibt der Modergeruch des Todes. Wieder andere retten Fischer bei der Sturmflut. Ihre Aufgaben sind mannigfaltig, und ihr Handeln ist für Sterbliche nicht immer verständlich. Jedenfalls leben sie in der Anderswelt, zu der die Sterblichen nur selten Zugang haben und, so sie denn dorthin gelangen, für die der Aufenthalt meist tödlich endet.

Dieses Geheimnisvolle lädt natürlich dazu ein, verwunschene Geschichten über die Feen zu erzählen, die traditionell nicht nur in Irland, sondern auch in anderen Ländern ihren Ursprung haben. Hetmann beschränkt sich aber auf die Grüne Insel, um das Material überschaubar zu halten; schon in diesem Band sind so viele Geschichten enthalten, dass sie für lange Leseabende genügen.

Der Band unterteilt sich in sechs Kapitel, die sich einer jeweiligen speziellen Thematik zuwenden. Den Anfang machen richtigerweise die frühesten Zeugnisse zur Anderswelt, beginnend bei den Tuatha de Danann, einem der Urvölker Irlands. Eingang in dieses Kapitel haben gleichfalls die Sagen um Etain und Midhir oder um den König Cormac gefunden, alles sehr Traditionelle und für den Kenner geläufige Geschichten, die aber allesamt in einer leicht zugänglichen, will sagen: nicht ineinander verwobenen, sondern gut lesbaren Sprache festgehalten sind.

Die weiteren Kapitel beschäftigen sich beispielsweise mit den Feenwesen, die die weitläufigen Provinzen der Anderswelt bevölkern (womit das Augenmerk in gelungener Weise auf die Vielfalt der dort lebenden Wesen gerichtet wird) oder mit dem Tun und Handeln der Feenwesen in unserer Welt. Das letzt genannte Kapitel gibt beredt Zeugnis davon, wie die Beziehungen zwischen den Menschen und den imaginären Gestalten sind. Einige dieser Sagen sind nicht viel mehr als knappe Episoden, kurze Berichte zum Beispiel über eine Hebamme, die zur Geburt eines solchen Wesens gerufen wird. Aber trotz der Kargheit der Sprache und der wenigen Zeilen strömen sie die Atmosphäre aus, die den Zauber irischer Erzählungen umweht: Das Auge verweilt im Jetzt, aber die Gedanken schweifen hinüber in die Anderswelt.

In dieser und ähnlicher Prägnanz erzählt, erfahren wir viel über die Feenwesen, und es sind durchweg bezaubernde Geschichten, die nicht umsonst um Aufmerksamkeit heischen. Wer sich nur ein ganz klein wenig öffnen kann für das Märchenhafte, für das Phantastische, dem öffnet sich die »Reise in die Anderswelt« als eine Fundgrube zum Schmökern.

Auch dieser Band ist zuvor im Eugen Diederichs Verlag erschienen, doch diesmal wurden die Texte überarbeitet (wobei ich mir nicht die Mühe gemacht habe, einen Vergleich zu ziehen, denn der nun folgende Hinweis macht den Neuerwerb überlegenswert) und um ein »Who is who der Anderswelt« ergänzt. Auf gut 50 Seiten erläutert Frederik Hetmann in seiner unnachahmlich profunden Art wie die »Wilde Jagd« oder den »Liebesfleck« und beschreibt Gestalten der irischen Mythologie genauso wie die Autoren, denen der Erhalt dieser Erzählungen zugeordnet werden kann. Hetmann räumt zwar selbst ein, in einer späteren Ausgabe beispielsweise die Lebensläufe ausführlicher darstellen zu wollen, aber für einen ersten Eindruck genügt dieses umfangreiche Glossar allemal.

Hinzugesellt sich ein ebenso ergiebiges Kapitel mit weiteren Anmerkungen und Quellenangaben, die so ausführlich sind, dass sich ein deutliches Bild ergibt, welche Personen sich um den Erhalt der Texte verdient gemacht haben.

»Die Reise in die Anderswelt« war bereits in der Vergangenheit ein Standardwerk zu den irischen Feengeschichten, in der überarbeiteten und ergänzten Neuausgabe trifft dies erst recht zu. Wer Irland liebt, wer Märchen mag, der muss auch den Abstecher in die Anderswelt wagen. Dieser schöne Band ist die Fahrkarte dorthin.


[Meine Buchbesprechung erschien ursprünglich vor rund fünfzehn Jahren im Onlineportal X-Zine. Diese Ausgabe ist nur noch antiquarisch erhältlich. Mittlerweile erschien jedoch eine um einige Beiträge gekürzte Neuausgabe unter dem Titel »Märchen von der Anderswelt« im selben Verlag – der Kern meine Rezension sollte also weiterhin gültig sein.]