Keine Heimkehr
Seamhainn
Im Licht der untergehenden Sonne lag sie vor ihm: Imrith, seine Stadt. Oder nicht mehr seine Stadt. Denn viel Zeit war vergangen. Im Licht der letzten Sonnenstrahlen näherte er sich dem Stadttor. Sich in den Schatten bewegend, wie es ihm zur zweiten Natur geworden war, bemerkten ihn die Wachen am Tor nicht.
So verborgen durchstreifte er die Stadt. Vieles hatte sich in all den Jahren verändert, vieles war gleichgeblieben. Unbemerkt von den Bewohnern Imriths beobachtete er ihr Treiben. Das Tageslicht schwand zusehends, und die Schatten vertieften sich, was sein Fortkommen erleichterte.
Ungesehen konnte er die Bewohner Imriths bei den letzten Tätigkeiten ihres Tagwerkes beobachten. Bis er um eine Ecke bog, wo er eine Wäscherin erblickte, die Kleidungsstücke zusammenlegte. Bei ihr, in einiger Entfernung, spielte ein Kind. Ein Mädchen, wohl die Tochter der Wäscherin, von vielleicht acht Jahren.
Er erkannte, dass das Mädchen direkt in seine Richtung blickte. Unbemerkt von der Mutter näherte er sich dem Kind und kniete vor ihm.
»Wieso können die anderen dich nicht sehen?«, fragte das Mädchen.
»Schsch!«, antwortete er leise und legte einen Zeigefinger an seine Lippen. »Es ist eine Art Magie. Wie ist dein Name?«
»Rachaíl«, antwortete das Mädchen.
»Rachaíl«, flüsterte er, »da du mich als einzige sehen kannst, sage ich dir, dass du einst eine mächtige Ban Uídeas sein und mit den anderen Weisen Frauen in Teámhair leben wirst. Aber erzähle es niemandem.«
Mit diesen Worten drückte er sanft die kleinen Hände des Mädchens, das erstaunt, aber glücklich lächelte, erhob sich und verschwand lautlos zurück in den Schatten
Die Wachen der Burg bemerkten ihn ebenso wenig wie diejenigen am Stadttor. Lautlos schlich er durch die altbekannten Gänge des Gemäuers, bis er den Thronraum erreichte.
Im Angesicht der ständigen Bedrohungen in diesem Bereich von Erainn blieb nur wenig Raum für Prunk auf der Burg von Imrith. Somit bildete ein schlichter hölzerner Thron den Mittelpunkt des Raumes. Nur einige Fackeln beleuchteten den Raum eher spärlich.
Eine einzelne Gestalt saß zusammengesunken auf dem Thron. Aus den Schatten tretend sprach er die Gestalt mit leiser Stimme an: »Aill, alter Freund, wie ich sehe, hältst du noch immer die Stellung.«
Der mit Aill Angesprochene setzte sich auf und erhob sich vom Thron. »Seamhainn, bist du es? Nach all den Jahren …« Die von Aill, dem Barden von Imrith, angesprochenen Jahre zeichneten sich deutlich in seinem faltigen Gesicht ab. Seine Haare waren grau geworden, und seine einstmals kräftige Statur war nunmehr gebeugt. Doch seine Stimme war immer noch kraftvoll.
»Ich bin es«, bestätigte Seamhainn, und die alten Freunde umarmten sich.
»Meine Augen sind mit der Zeit schwächer geworden«, sagte Aill. »Aber ich erkenne, dass, obwohl das Alter dir nichts anhaben kann, die Jahre auch dich gezeichnet haben.«
Seamhainn, der Coraniaid, durch sein Blut geschützt vor dem Alter, schwieg zu den Worten des Barden.
»Und, hat es sich gelohnt? Konntest du Cromh Cruech töten?« Seamhainn schüttelte unmerklich den Kopf.
»Dann nimmst du deine Stellung als Stadtherr von Imrith wieder ein.« In die Augen des Barden trat ein Leuchten, und mit einer Geste wies er auf den hölzernen Thron.
Doch Seamhainn schüttelte erneut den Kopf. »Dies war und ist dein Platz, alter Freund. Du führtest die Geschicke Imriths mehr Jahre als ich es tat, und ich muss dich bitten, es noch einige Jahre mehr zu tun. Meine Bestimmung liegt an einem anderen Ort.«
Mit diesen Worten legte Seamhainn dem Barden seine Hände auf die knochigen Schultern und drückte ihn sanft auf den Thron zurück.
»Dann ist unser Kampf gegen die Finsternis zwecklos? Wir können nicht obsiegen?« Aills Körper sank noch mehr zusammen.
»Der Kampf gegen die Finsternis, gegen das Böse ist niemals zwecklos«, antwortete der Coraniaid. »Wir stehen gegen die Dunkelheit und sind das Bollwerk für diejenigen, die sich selbst nicht schützen können.«
»Leb wohl«, flüsterte Aill und griff nach seiner Laute, die auf einer Anrichte neben dem Thron lag. Mochte der Schwertarm des Barden im Alter auch ermüdet sein, seine Sangesstimme hatte nichts von seiner Kraft verloren. So hob er ein letztes Mal zu einer alten Kampfweise an.
Stumm dieses Lied summend, verließ Seamhainn Imrith.
Die Gruppe der Krieger hatte sich zu einigen Flüchtlingen aus dem Nor gesellt. Nur ein sehr aufmerksamer Späher hätte das unscheinbare Feuer erkannt, um dass sich alle, bis auf zwei Wachen, versammelt hatten. Der Anführer der Krieger, ein Mann von kräftiger Statur und breiten Schultern, ermutigte einen der Flüchtlinge – einen alten Mann –, eine Geschichte aus vergangenen Zeiten zu erzählen.
Der Name des Anführers der Krieger war Fergal. Fergal, der Aufrechte, der letzte Getreue Corrabheinns. Einst waren sie Gefährten gewesen. Doch vor vielen Jahren hatten sich ihre Wege getrennt.
Während Seamhainn in der Dunkelheit auf Fergal blickte, konnte er erkennen, dass ein beschwerlicher Weg vor dem Anführer der Krieger lag, am Ende der Tod, aber auch ein neues Leben. Wie dies zusammenhing, wusste Seamhainn zu diesem Zeitpunkt nicht.
Kurz spielte der Coraniaid mit dem Gedanken, ebenfalls ans Feuer zu treten. Doch schließlich nickte er Fergal nur kurz aus der Dunkelheit zu und verschwand ungesehen in der Nacht, aus der er gekommen war.
In einer anderen Nacht näherte sich Seamhainn An Gormtúr. Der volle Mond stand hoch über dem Gemäuer des alten Turms, der nun wieder bewohnt war. Als er sich den Mauern näherte, verspürte er schon aus einiger Entfernung den verlockenden Ruf Emhain Abhlachs, denn ein Tor in An Gormtúr führte in die Grüne Welt – und ignorierte ihn wie schon seit vielen Jahren.
An diesem Ort waren viele Bewohner der Grünen Welt versammelt, und so war es ungleich schwieriger, unbemerkt an sein Ziel zu gelangen. Schließlich jedoch betrat er nahezu lautlos ein Zimmer, das nur spärlich durch ein Feuer im Kamin erhellt wurde.
An einem offenen Fenster, das erst vor wenigen Tagen neue hölzerne Verschläge erhalten hatte, stand eine schlanke Gestalt, gekleidet in feine Gewänder, die nicht von dieser Welt schienen. Scheinbar in Gedanken versunken, blickte die Gestalt zum nächtlichen Firmament.
Dann richtete sich die Gestalt auf und erschien nun noch größer, als sie in Wirklichkeit war. Ohne sich umzuwenden, sprach die Gestalt am Fenster: »Willst du weiter in der Dunkelheit verharren, Seamhainn?«
Es war nicht Seamhainns Plan gewesen, sich vor Amhairgin verborgen zu halten, da dies jenseits seiner Fähigkeiten war. Also trat er neben ihn ans Fenster. Beide waren sie Coraniaid. Doch unterschiedlicher hätten die Wege, die sie zurückgelegt hatten, nicht sein können.
Lange blickte Seamhainn suchend zum nächtlichen Himmel auf. »Wo?«, fragte er schließlich.
Amhairgin deutete auf einen bestimmten, erst kürzlich aufgegangenen Stern am Firmament.
»Dort also«, flüsterte Seamhainn.
Amhairgin nickte nur leicht.
Lange blickten die beiden Coraniaid schweigend auf die Konstellation am Himmel, in die der neue Stern perfekt hineinpasste.