Die folgende Geschichte spielt im Falkenmond im Jahr 57 nach der Finsternis. An den Geschehnissen in Areínnall nehmen ein Erainner und eine unbekannte Frau teil, die sich in einem Gasthaus treffen. Danach nehmen die Ereignisse ihren Lauf. Die Bilder fertigte AI Midjourney an ich erstellte die Prompts. Die Erzählung erschien auch in den Schlangenschriften 107 und in Follow 456.
Wer mag, kann sich die PDF oder das ePub mit der Geschichte hier herunterladen:
Schimmer im Mondlicht als ePub
Schimmer im Mondlicht
Amhairgin
»Sorcha!« war neu und edel, und ein Sitzplatz in diesem Speiselokal war heiß begehrt. Der letzte Schrei in Areínnall. Wer etwas auf sich hielt, reservierte sich und seiner Liebsten einen Platz an einem der Tische. Dabei musste die Liebste nicht die Angetraute sein. Und wie in Erainn durchaus üblich, lud auch einmal die Liebste einen Liebsten ein.
Vier Nischen lagen um einen üppig dekorierten Innenraum. Verspielte Kerzenleuchter standen auf den Tischen und Anrichten, die aus ausgesuchten Hölzern gefertigt waren. Kunstfertig war dies alles, die Decken und Wände mit Hölzern veredelt, der Boden sogar hier und da mit üppigen Teppichen bedeckt. Welch eine Verschwendung für eine Gaststube! Doch »Sorcha!« wollte nicht irgendein Gasthaus sein, »Sorcha!« wollte das beste Haus am Platz sein.
Jede Nische versprach traute Zweisamkeit. Ein schwerer Vorhang dämpfte die Unterhaltung. In das Wollgeflecht gewoben waren magische Fäden mit einem Schutz vor Lauschern. Gegen einen horrenden Betrag wurde dieser Schutz aktiviert. Die Wände nach außen – zur Straße und in den Hof – waren bestrichen mit einer sündteuren, aber rätselhaften Substanz, die das Mithören verhinderte.
Sanftes Kerzenlicht erhellte die kleinen Zimmer, weicher Samt schmeichelte den sicher edlen Hintern, und die Stühle glichen mehr Liegen als einfachen Sitzen. Und Abzüge sorgten für frische Luft.
Dies alles hatte seinen Preis. Wer sich nach den Kosten erkundigte, schnappte nach Luft. Doch in der Hauptstadt Erainns gab es genug solvente Bürger und Gernegroße, Adlige und solche, die über krumme Touren zu Geld gekommenen waren. So blieben vom ersten Tag an diese besonderen Nischen des Abends selten leer.
Ob »Sorcha!« daher als neuer Tummelplatz zwielichtiger Gestalten gelten sollte, die ihre dubiosen Geschäfte in einer sicheren Umgebung im schmucken Ambiente abschlossen? Mitnichten. Die Aingeal na Cathrach, die Stadtwache, wäre auch schnell zur Stelle gewesen – trotz ihres Rufs, lieber Gast in einem exquisiten Haus zu sein, als dieses auszuräuchern. Gerade in diesen Tagen, da Areínnall ein unruhiges Pflaster und selbst ein Dieb nicht seines Lebens sicher war.
Wer also gönnte sich den Luxus einer solchen Nische mit weichen Polstern auf Stühlen und Bänken. Wobei Letztere auch als eine spezielle Art von bequemen Liegen dienen konnten. Nun, manch vornehme Dame jedenfalls trank hier gerne ein Glas vom würzigen Wein und frohlockte, derweil der Herr anderweitig beschäftigt war.
Und ja, manchmal wurden auch dubiose Geschäfte abgewickelt. So ehrlich sollte man sein. Aber wie über vieles, so sollte auch darüber der Mantel des Schweigens gebreitet werden.
Heute war in Nische 4 – am besten gibt man ihr zum Erkennen eine Nummer, vielleicht ist dies in einer späteren Geschichte noch von Belang – kein Kichern zu hören, kein Seufzen und »ach, was tut das gut«, sondern … nun, man sollte sich einfach der Szene in Nische 4 näher widmen.
ER sah adrett aus. Jedenfalls galt er in den Kreisen, die sich selbst gern »hochnobel« nennen, als hübscher Mann mit Ambitionen und, was für einige Personen in den genannten Kreisen wichtig ist, genügend Geldmittel, um übers Aussehen hinaus als attraktiv zu gelten. Seine schulterlangen blonden Haare umgrenzten ein scharf geschnittenes Gesicht mit spitzem Kinn, das er beim Reden wie einen Dolch seinem Gegenüber entgegenreckte. Seine blauen Augen brachten das Gesicht jeder Maid zum Glänzen, seine Hände waren zart wie die eines Musikanten. Und doch schlug er eine flotte Klinge, wenn es nötig war.
Dem Ambiente des vornehmen Hauses – und weil er sich gern hochnobel kleidete – zollte er mit einer knielangen dunkelgrünen Tunika aus feinem Leinen Tribut, über die er eine braune Obertunika gezogen hatte. Funkelnde Ringe zierten seine Hände, ein Amulett an seinem Hals symbolisierte … nun ja, irgendetwas Wichtiges wahrscheinlich.
Doch was, das wusste sein Gegenüber nicht. Und ganz ehrlich, es interessierte sie nicht.
SIE saß bereits am Tisch, als er auf den Moment genau zur vereinbarten Zeit die Nische betrat.
Wobei »betrat« der falsche Ausdruck ist. Sie schwebte hinein und ließ sich am Tisch nieder.
Sie schien nicht so kräftig wie ihr späteres Gegenüber, eher athletisch, dabei gelenkig und geschmeidig. Ihre seidigen braunen Haare fielen kaskadenartig den Rücken hinab, ihre braunen Augen schauten wach von hier nach da, während sie wartete. Ihre Finger waren schlank und – ein ungewohnter Anblick für den, der sie wirklich kannte – mit vielen Ringen bedacht, die eine Spur von ihrem Vermögen zeigten. Lederne Armbänder zierten ihre Oberarme, ein Kropfband betonte ihren schlanken Hals.
Ungewohnt war für die Frau, deren Alter sich nicht genau erschließen ließ, die Art ihrer Kleidung. Sie trug ein zartgrünes Kleid aus reiner Spinnenseide, federleicht und durchscheinend. Üblicherweise wurde dazu ein Unterkleid getragen, das schamlose Blicke vereitelte. Diese Frau verzichtete darauf. Das rote Leder ihrer Stiefel, die bis zu den Knien reichten, stach durch das filigrane dünne Gespinst.
Der Mann – dessen Namen nicht verraten wird, weil der Mann im besten Fall zweitrangig ist bei dieser Zusammenkunft – schaute verdutzt, als er die Frau bereits in der Nische warten sah.
Er rief eine Schankmaid herbei und setzte sich. Die Schankmaid trug ein bodenlanges dezentes Kleid über ihrem ranken Leib, und ausgestattet war sie mit einem entzückenden Lächeln. Sie eilte hinzu und bat mit höflichem Knicks und noch mehr Lächeln um den Auftrag.
»Möchtet ihr speisen?«, fragte der Mann honigsüß.
Die Frau winkte herrisch ab. »Bringt mir ein Glas Cuanscadaner, den Roten«, wies sie an. Ob sie sah, wie die rechte Augenbraue des Mannes sich hob? Natürlich wusste er, wie rar und teuer ein echter Cuanscadaner war. Er offenbar scheute den horrenden Preis und bestellte einen süßlichen Weißen aus Chryseia.
»Ihr ward lange nicht mehr in der Stadt«, sagte er.
Und fing sich sofort ein gelangweiltes »Zum Plauschen bin ich nicht gekommen« ein.
Der Mann griff den flink gebrachten Weinkelch, nahm einen Schluck und stellte ihn behutsam auf den Tisch, wie wenn er ihn zerbrechen könnte. »Ihr wollt sicher wissen, warum ihr Séamas¹ nicht findet«, flüsterte er.
Für einen Wimpernschlag erstarrte die Frau. Dann fuhr ein Ruck durch ihren Körper. Das Seidenkleid raschelte. Die Frau sprang auf und bog ihren Körper nach vorn, ihre Arme fuhren zum Hals des Manns und schnürten ihn zu wie zwei Schlangen, die ihr Opfer erwürgen. Ihr Weinkelch schlug um und spritzte blutroten Wein auf ihr helles Gewand.
Die Wucht des Angriffs warf zurück, sein Kopf schlug hart gegen die Wand, die Augen verdrehten sich und zeigten ihr Weiß. Seine Hände griffen ins Leere vor Angst, packten dann die Frau um die Schultern und drückten dagegen. Es war sinnlos, die Frau war kräftiger als gedacht, sie presste den Mann gegen die Wand. Die gesamte Nische bebte unter der Gewalt.
Dies blieb nicht unbemerkt; der Vorhang wurde von außen aufgeschoben. Sorcha, die Inhaberin, schaute herein. Die Gäste im Innenraum, die das erstaunliche Tun mitbekamen, gafften erstaunt, überrascht, entsetzt oder belustigt zu dem Stück, das in der Nische gespielt wurde.
»Das gibt es bei mir nicht«, sagte Sorcha scharf. Doch sie bedachte den Mann mit einem belustigten Blick. Der glotzte mit weit aufgerissenen Augen und hängender Zunge Sorcha an.
Die Frau lockerte ihren Griff; zischend sog er Luft ein, die vornehme Blässe seines Gesichts war längst einem tiefroten Ton gewichen.
Endlich lösten sich die Finger der Frau. Sie sank ermattet zurück, weniger wegen der körperlichen Anstrengung, viel mehr wegen der Worte des Mannes.
»Ist gut«, sagte sie flüchtig zu Sorcha.
Sorcha warf dem Mann noch einen mahnenden Blick zu, als weise sie ihm allein die Schuld für den Vorfall zu. Dann schloss sich der Vorhang.
»Ihr hängt wohl an eurem alten Komplizen«, krächzte der Mann. Er rieb sich den Hals, rote Striemen schmückten nun das Fleisch wie eine Blutkette. »Das hier werdet ihr …«
»Ihr seid ein toter Mann.« Die Frau schnitt ihm das Wort ab.
Er blieb stumm, doch aus seinen Augen sprühte Schadenfreude. Hatte er die Frau doch aus der Fassung gebracht. Er hatte sie schneller als erhofft, soweit er wollte. Alles, was die anderen ihm zur Warnung mit auf den Weg gegeben hatten, war zerstoben wie Schneeflocken in der Sonne. Und für das, was sie ihm vor allen Augen gerade angetan hatte, würde sie bezahlen.
»Séamas ist in guten Händen, auch wenn ihm sein Alter wohl zu schaffen macht.« Hastig kippte er einen Schluck Wein hinunter. »Wenn ihr wirklich wollt, könnt ihr Séamas wiedersehen.« Er beobachtete die Frau und grinste. »Dieses verrückte kleine Ding namens Liebe. Nicht wahr, meine Teure.«
Nein, mit Liebe hatte es nichts zu tun, dass ihr die Neuigkeit so zusetzte. Es war mehr, so viel mehr …
»Wo ward ihr denn, als Séamas verschwand? Wir haben euch viele Tage gesucht, ihr ward nicht in eurem Anwesen und nicht in der Stadt. Ihr hättet eurem Freund viele Leiden ersparen können, aber das habt ihr nicht getan.«
War das ein Vorwurf?
Die Frau sagte noch immer nichts. Sie sah auf den Fleck, der sich auf ihrem hellgrünen Kleid wie eine blutrote Rose im Schoß entfaltete.
»Sicher wollt ihr Séamas retten. Das könnt ihr. Ihr müsst uns nur einen kleinen Gefallen erweisen. Das Übliche, ihr kennt das. Manche Subjekte sind überflüssig und müssen aus dem Spiel genommen werden. Und sicher sollen wir nicht euren lieben Séamas aus dem Spiel nehmen, nicht wahr?«
Jetzt erst schaute die Frau ihn an. Ihr Blick durchbohrte ihn.
Er zuckte zurück, wischte sich fahrig über die Wange.
»Was wollt ihr?« Ihre Stimme zischte eiskalt.
Der Mann spürte, wie er endgültig Oberwasser bekam. »Beseitigt den neuen Machthaber, oder als was er sich sieht.« Seine Mimik verriet seine Verachtung. Doch als er ihren fragenden Gesichtsausdruck erkannte, reckte er sein Kinn keck vor.
»Ihr ward wirklich nicht in der Stadt. Die Verhältnisse wollen sich wieder verschieben, wir müssen darauf achten, dass nicht andere die Macht an sich reißen.« Verschwörerisch hörte er sich an, als ob er die Frau längst eingebunden sah in einen Plan, den sie wohl gar nicht kannte. »Ihr kennt euch in Ailleacht-rigúil² aus wie keine andere. Ihr seid fähig wie keine andere. Ihr seid geeignet. Beseitigt das Übel«, sagte er, »und dann ihr seht Séamas wieder. Lebend. Heute Nacht noch, es eilt, die Zeit drängt. Ihr ward zu lange fort.«
Die Frau stand auf, schob den Vorhang zur Seite und forderte eine Schankmaid herbei. »Ich zahle.« Der Vorhang glitt zurück, sie setzte sich nicht mehr. Mit dem Daumen strich sie über ihre roten Lippen, sie waren trocken wie sprödes Laub. »Ihr sterbt, wenn Séamas stirbt. Ihr und euer ganzes Geschmeiß. Jedes einzelne Subjekt von eurer Sippschaft, ganz langsam. Ihr sterbt alle. Und ihr seht dabei zu, bis ich auch euch auslösche.«
Sie warf ein paar Münzen auf den Tisch, öffnete den Vorhang und verschwand.
Der Mann schaute ihr lange hinterher und blieb eine Weile sitzen. Er wurde er das Gefühl nicht los, dass er und die anderen einen großen Fehler gemacht hatten.
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Die Frau lebte in einem prächtigen Anwesen im besten Viertel Areínnalls. Offensichtlich war sie sehr wohlhabend. Sie hielt sich nicht in den Gärten mit den wohlduftenden Blumen und immergrünen Sträuchern auf, die das prachtvolle Haus umgaben, und auch nicht in den luxuriös eingerichteten Zimmern. Und sie befahl nicht ihre Bediensteten herbei wie sonst, damit sie dies und jenes erledigten.
Stattdessen stiefelte sie zur gewundenen Treppe, die hinaufführte zu weiteren Räumen. Unter der Treppe löste die Frau mit einer leichten Geste eine magische Vorrichtung und öffnete eine schwere Eichentür. Sie stieg die ausgetretenen Stufen hinab in einen Raum. Dort entzündete sie eine bronzene Lampe auf einem Tisch aus schwarzem Holz. Die Lampe spendete blasses Licht wie der Mond in einer sternenklaren Nacht.
Nun suchte sie die Gegenstände zusammen, die sie für ihre Arbeit benötigte, steckte sie in eine schwarze Gürteltasche und legte diese auf den Tisch. Dann entkleidete sie sich bis auf die nackte Haut, legte das Kleid und die Stiefel und den unnötigen Schmuck sorgsam beiseite. Es war kalt hier unten, doch sie fror nicht.
Sie öffnete einen verschnörkelten alten Schrank und holte einen schwarzen Lederanzug heraus. Den Lederanzug zog sie bei ihren nächtlichen Streifzügen an, doch in den vergangenen Monden trug sie ihn nicht mehr. Trotzdem achtete sie an jedem Tag darauf, kein Gramm zuzunehmen, damit er ihr jederzeit passte wie eine zweite Haut. Das geschmeidige, weiche Leder stammte von einem schwarzen Berglöwen, die fast so selten waren wie Drachen, sagte man. Sie hatte den Berglöwen selbst zur Strecke gebracht, vielleicht den Letzten seiner Art.
Ihr biegsamer Körper glitt hinein. Sie zog die ledernen Beine des Anzugs über Waden und Schenkel und Po und schlüpfte in die Arme. Sie strich das Leder vorne glatt und schloss eine der Lederschnallen nach der anderen bis zum Hals. Nun stieg sie in ein Paar schwarze Lederstiefel mit weicher Sohle, die sie jeden ihrer Schritte fühlen ließ. Sie gürtete die Ledertasche links an ihre Hüfte und befestigte den fingerschmalen schwarzen Dolch in einer schwarzen Lederscheide an ihrer rechten Seite.
Die Frau sah im Licht der Laterne aus wie eine Königin der Sünde, nur tödlicher.
Nun wartete sie auf die rechte Stunde in der Nacht …
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Séamas war ihr Partner über viele Jahre, sie hatten Höhen und Tiefen erlebt. Sie hatte ihn nach Areínnall begleitet, nachdem sie sah, wie ihn das Alter mit jedem Tag mehr beugte. Nie hatte sie ihn so erlebt wie im vergangenen Jahr. Sie sorgte dafür, dass er in seinem Haus gut versorgt war, und immer, wenn es ihr möglich war, suchte sie ihn auf. Sie sah seinen körperlichen Verfall, aber auch, wie rege noch sein Verstand war. Nie sprach er über ihre gemeinsame Vergangenheit, schon gar nicht darüber, was sie Schlechtes getan hatten – neben all dem Guten, für das sie zusammen eingestanden waren.
Bevor sie vor wenigen Monden zu einer längeren, nicht aufschiebbaren Reise aufbrach, musste sie ihm versprechen, dass sie sich noch einmal sehen würden.
Und doch hatte es wie ein Abschied für immer geklungen.
Aber als sie zurückkehrte, war sein Haus verlassen, seine Magd ermordet und er verschwunden. Sie war wirklich zu lange fort, was hatte sich in Erainn in dieser Zeit getan?
Nun also war ihr alter Gefährte in den Händen von Gestalten, die mit einem Fingerschnippen für seinen Tod sorgten, wenn sie nicht spurte.
Wie zuwider ihr dies war. Sie ordnete sich nicht unter. Sie führte keine Befehle aus, sie tat das, was ihr Gewissen ihr vorschrieb. Das konnte durchaus tödlich für andere sein. Jetzt aber handelte sie im Auftrag böser Mächte, und sie konnte nichts anderes tun, als ihrer Weisung zu folgen.
Die Burg, erhaben über den Häusern der Stadt, kannte sie wirklich gut. Früher war sie oft hinein- und herausspaziert, als ob sie dort wohnte. Bis ins verflossene Jahr hatte sie Aufträge des Dáil³ ausgeführt. Dann wurde alles anders. Die Menschen in der Burg schienen verängstigt, verstört. Und selbst Cóem, eine Súile Nathrach, ein »Auge der Schlange« und die erste Frau im Dáil, war ihr gegenüber plötzlich verschlossen. Nichts war mehr so, wie es sein sollte.
Die Frau brach zu einer Stunde auf, in der die letzten Gestalten die Gaststuben verlassen hatten, doch bevor die ersten Arbeiter auf den Beinen waren. Nun schliefen alle in der Stadt am tiefsten. Sie huschte als schwarzer Schatten durch die Gassen, mied die offenen Plätze und sprang in einen Winkel, sobald sich eine einsame Gestalt näherte.
Sie gelangte zu einem eisernen Tor in der Burgmauer. Die Wolken verdeckten den Mond. Auf dem Hintergrund des hellen polierten Steins, aus dem das Mauerwerk bestand, bildete sich für einen langen Moment ihre schwarze Gestalt ab. Rasch öffnete sie das kleine Tor mit einem geheimnisvollen Fingerzeig, und sie wischte hindurch.
Sie durchquerte einen Garten, der in der Dunkelheit mit ihr flüsterte, querte eine Brücke, die sich über einen kleinen, von Coraniaid geschaffenen Bach spannte, und erreichte eine weiße Mauer, dies vor ihr so hoch aufstieg, wie sie in der Dunkelheit schauen konnte. Ihre Augen sahen mehr und weiter als andere in der Finsternis.
Sie nahm ein kleines Gefäß aus ihrer Gürteltasche, nestelte den Deckel ab und tunkte ihre Finger in die Salbe. Sie rieb die Sohlen ihrer Stiefel ein und dann ihre Hände und verstaute das Behältnis wieder. Sie schaute hinauf zum Himmel. Die dichten Wolken waren ihr Freund, der Mond würde sie in dieser Nacht nicht verraten. So verzichtete sie auf einen Zauber, der sie für eine gewisse Zeit unsichtbar machte. Aber bei einer Burg, die die Coraniaid errichtet hatten, war der Einsatz von Magie gewagt. Die magischen Schutzmaßnahmen verhinderten die meisten Zauber, die sie kannte.
Die Mauern der Burg waren makellos. Sie aber fand kleine Kerben und Riefen, in die sie ihre Fingerspitzen und die Spitzen ihrer Stiefel drücken konnte; die Salbe tat das Übrige. Stück für Stück schob sich ihr schlanker Leib hinauf. Kühle Nachtluft strich um ihr Gesicht. Um einen der schlanken Türme nahe bei strich lautlos ein Nachtvogel, stürzte sich in die Tiefe und schnappte sich seine Beute im Garten.
Sie war oben, hievte sich über den Mauerrand und schnellte auf die Mauer. Links und rechts zog sich die Wehrmauer zu jeweils einem Rundturm. Sie kannte den Weg, stob nach rechts und horchte. Dann passierte sie den Durchlass.
Wieder vollkommene Stille, sie hörte keinen Laut. Das war verrückt, etwas sollte immer zu hören sein. Jemand, der nachts schlaftrunken in die Küche taperte, Wachen, die ihre Runden drehten, ein Liebhaber, der verstohlen aus einer Kammer zurück in seine schlich …
Sie öffnete zwei Schnallen ihres Lederanzugs und rieb den Stein, der an einer Silberkette um ihren Hals hing. Er leuchtete hell auf, dann wurde der Glanz matt. Ein unsichtbarer Mantel legte sich um sie, verschluckte die Geräusche, die sie machte. Sie nutzte den Stein nicht oft, weil sie riskierte, dass er nach einer Anwendung für immer erlosch. Doch heute Nacht schien ihr dies ratsam. Sie schloss die Lederschnallen wieder und schlich nun absolut lautlos weiter.
Durchquerte den Turm, huschte über eine verlassene Wehrmauer, verhielt beim nächsten Wehrturm, bevor sie diesen betrat. Hörte ein ruhiges Atmen, das Geräusch von Holz, das auf Stein traf. Sie machte einen Schritt vorwärts, einen zweiten, sah ins Innere des Turms, erkannte eine Wache fünf Schritte entfernt mit dem Rücken zu ihr, den Speer auf den Boden gestemmt, der Körper lässig, als ob er schon lange in dieser Nacht Wache stand.
Sie ließ sich Zeit, nahm den nötigen Gegenstand aus ihrer Gürteltasche. Setzte dann einen Fuß vor den anderen. Ein Vogel schlug an, vermutlich der Nachtvogel von vorhin, der seine Beute dem Nachwuchs brachte. Die Wache ruckte hoch, sein Körper nun straff, seine Sinne geschärft.
Es nutzte ihm nichts.
Die Frau stand hinter ihm. Er merkte nichts. Eine Bewegung in der Finsternis, und die Lederschnur spannte sich an seinem Hals. Dann riss sie nach hinten an, nahm die Holzgriffe über Kreuz und zog hart. Hände fuhren schlagartig hoch. Der Speer fiel. Sie streckte den rechten Fuß aus, fing den Speer mit dem Spann auf und ließ ihn still zu Boden gleiten.
Seine Hände fuchtelten ins Leere, fassten zur Lederschnur, suchten den dünnen Spalt zwischen tödlicher Schnur und gequetschter Haut, fanden ihn nicht und kratzten sich nur den Hals blutig. Kein Laut drang aus seiner Kehle, die Luft wurde abgeschnitten, je enger sie den Kreis der Lederschnur zog. Sein Körper verlor die Straffheit, die Knie gaben nach; ein elendes Röcheln zwischen seinen Lippen, blutige Kehle und blutige Finger.
Sie wollte noch einmal ziehen, richtig kräftig, wollte ihn tot.
Sein Körper zuckte, wurde schlaff.
Dann erinnerte sie sich, wer sie war, und sie ließ endlich los.
Er rutschte auf den kalten Boden.
Sie beugte sich hinunter. Er atmete.
Sie sprang weiter.
Doch etwas stimmte nicht. So wenige Wachen, so wenig Bewegung. Unwahrscheinlich selbst zu dieser Stunde. Die Burg war riesig, es war immer etwas los.
Der nächste Rundturm war stockfinster und leer. Keine Laternen, die Licht spendeten für die Wachen. Dann war sie dort, wohin sie wollte. Sie spähte über die Mauer hinunter. Niemand im Hof. Die Wolken verloren sich langsam, doch noch half ihr die Dunkelheit.
Sie betrat einen Gang, der sich verzweigte. Blieb stehen, atmete nicht, hörte. Ließ ihre Sinne schweben. Sie verloren sich bald im Netz zauberischer Hindernisse, das die Weisen Frauen in der Burg gesponnen hatten. Ihre eigene Grüne Gabe brachte sie nicht weiter; ihre magischen Fähigkeiten konnten sich nicht mit denen der wahren Weisen Frauen messen.
Sie wandte sich nach rechts, ging an Wänden entlang mit Gemälden heldenhafter Schlachten und wundersamer Landschaften, huschte über dicke Teppiche und blanken Stein, schmeckte den Geruch uralter Mauern auf ihrer Zunge, hörte das Knistern des Gebälks – doch sie sah keine Menschenseele.
Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Auf ihrer Stirn bildeten sich kleine Schweißtropfen trotz der Kälte der Nacht. Ihr Lederanzug knirschte leise bei jeder Bewegung, aber ihr magischer Stein schluckte auch diese Geräusche.
Dann stand sie vor der Tür. Dies war das gesuchte Schlafgemach. Wo sonst? Sie legte ein Ohr an das Holz und lauschte. Sie hörte nichts. Sie war längst mit mehr erstaunt, nachdem sie bei ihrem Streifzug auf so wenige Hindernisse gestoßen war.
Sie hatte die Wahl. Durch die Tür eindringen – niemals. Das widersprach ihrem Sinn nach Abenteuer, ein wenig Spannung spüren, dem Gefühl, nicht wie andere zu sein. Sie würde es lieber außen an der Mauer entlang versuchen wie eine Klette, Spalten und Furchen suchen mit ihren Fingern, ein Fenster finden und hineinschwingen, zur Bettstatt gleiten, in der das arglose Opfer seinen letzten Traum träumte, und zustechen.
Sie wusste mit einem Mal, wie sinnlos das heute war. Sie spürte eine helle Bewegung in der Luft, einen lebhaften bezaubernden Schleier, der durch die winzigen Ritzen des Holzes schwebte, der ihr schmeichelte wie zärtliche warme Finger. Flüsternde Stimmen, die sie herbeiriefen, ihren Namen nannten, ihr Begehren, ihre Sehnsucht.
»Craiceanna«, hörte sie die Stimmen rufen.
Und Craiceanna öffnete die Tür und trat in das Zimmer.
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In einem Sessel saß Amhairgin in lederner Hose und mit bloßem Oberkörper. Seine Hände lagen im Schoss, seine Augen ruhten auf der Frau, die eingetreten war.
Hinter ihm stand Ailinn, seine Gemahlin und Weise Frau. Ihr schneeweißes langes Kleid aus feinster Spinnenseide legte sich hauchfein wie die Flügel eines Schmetterlings um ihren schlanken Leib. Vom Fenster fächelte ein kühler Hauch ins Zimmer, das Gespinst fächelte sanft im Sog. Ein feiner dunkler Umhang, gehalten mit einer goldenen Fibel, bedeckte ihre Schultern. Sie strich eine Strähne aus dem Gesicht.
»Ich habe dich erwartet. Craiceanna, du wirst gebraucht«,4 sagte Amhairgin. Seine Stimme zerbrach die Stille wie einen dürren Zweig.
Die Wolken brachen auf, der Mond erwachte und schickte sein Licht hinein in das Zimmer. Und smaragdgrüne winzige Funken sprühten auf von Ailinns Haut und von Amhairgins, und auch von Craiceanna, als sie ihr Gesicht zum Mondlicht wandte.
Schimmer im Mondlicht wie von Smaragdstaub, der in der Stille des Augenblicks weht.
Doch Craiceanna bewegte sich nicht von der Stelle. Ihr Blick wehte nun vom Mann zur Frau und zurück. War da ein Flackern in ihren Augen, ein Spur von Überraschung vielleicht? Oder war es eine besondere Art von Erregung, die sie nicht einmal bei ihren verwegensten Abenteuern spürte.
»Ihr seid es also«, sagte sie leise.
»Wir müssen reden«, sagte Amhairgin. Er schaute zu Ailinn. Dann sagte er: »Doch wir werden erst später reden«.
Ailinn lächelte. Sie löste die Fibel, und der weiche Umhang glitt zu Boden, und ihr blieb nur das Kleid aus schneeweißer Spinnenseide.
Craiceanna Finger öffneten die erste Schnalle am Hals ihres Lederanzugs, dann die zweite und die dritte Schnalle. Sie atmete unruhig nun, und ihre Augen verbanden sich mit Ailinns Augen. Sie tat einen Schritt vorwärts. »So soll es also sein«, flüsterte sie. Und sie lächelte.
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1: Séamas Ceangal war Angehöriger der Gardairún – der Geheimpolizei – in der Hafenstadt Cuanscadan, die in früheren Tagen zu Erainn gehörte.
2: Hochcoraniaid; übersetzt: »Majestätisch, schön«. Der Name bezieht sich auf die erhabenen, berückend schönen Türme und Bauwerke der Burg, die dereinst von den Coraniaid hoch über der Stadt erschaffen wurde.
3: Rat von Erainn, zu dem sich die Fürstentümer des Landes verbunden hatten; trat vor Zeiten im berühmten Regenbogensaal eines Turmes in Cuannin Nathrach, der Ansiedling bei Teámhair, zusammen. Als die Geschichte spielt, besteht der Dáil seit kurzer Zeit nicht mehr.
4: Craiceanna war die Partnerin von Séamas Ceangal in der Gardairún in Cuanscadan. Nach der Zerstörung Cuanscadans blieb sie, obgleich sie eine Coraniaid ist (Séamas dagegen nicht), wohl auf Magira, und offenbar verloren ihr Partner und sie sich nicht aus den Augen. Jedenfalls sind beide in Areínnall, und es sieht so aus, als ob Craiceanna das Leben ihres Partners sehr viel wert ist. Wer Craiceanna (und Séamas) näher anschaut, wird meine Vorliebe für eine bestimmte englische TV-Serie aus den 60er-Jahren erkennen. Die Gardairún mit den beiden beschrieb ich übrigens im »Quellenbuch Cuanscadan« auf den Seiten 61 und 62. Nach MIDGARD-Regeln ist Craiceanna eine Assassinin.